* 30 *

Bald hatte Stanley ein erwartungsvolles Publikum um sich geschart. Er humpelte steif vom Kissen, richtete sich auf und holte tief Luft. Dann rief er mit zittriger Stimme: »Zunächst muss ich fragen: Ist hier eine gewisse Marcia Overstrand?«
»Das wissen Sie doch«, erwiderte Marcia ungeduldig.
»Ich muss trotzdem fragen, Euer Gnaden, so will es die Vorschrift«, sagte Stanley und fuhr fort: »Ich bin hier, um Marcia Overstrand, der Außergewöhnlichen Zauberin ... äh ... der ehemaligen Außergewöhnlichen Zauberin, eine Botschaft zu ...«
»Was?«, brach es aus Marcia heraus. »Der ehemaligen? Was meint die blöde Ratte damit?«
»Beruhige dich, Marcia«, sagte Tante Zelda. »Warte doch ab, was sie zu sagen hat.«
Stanley fuhr fort. »Die Nachricht ist um sieben Uhr früh am ...« Er hielt inne und rechnete nach, wie viele Tage inzwischen vergangen waren. Als pflichtbewusste Botenratte hatte Stanley während seiner Gefangenschaft Buch geführt und für jeden Tag eine Kerbe in einen Gitterstab seines Käfigs geritzt. Er wusste, dass er neununddreißig Tage bei Mad Jack geschmachtet hatte, aber er hatte keine Ahnung, wie lange er hier vor dem Kamin im Delirium gelegen hatte. »... äh ... vor geraumer Zeit von einem Bevollmächtigten abgeschickt worden. Der Adressat ist ein gewisser Silas Heap, wohnhaft in ...«
»Was heißt denn, von einem Bevollmächtigten?«, fragte Nicko. Stanley wippte ungeduldig mit dem Fuß. Er hatte es nicht gern, wenn er unterbrochen wurde, zumal wenn die Botschaft so alt war, dass er fürchtete, er könnte sich nicht mehr genau an sie erinnern. Er hüstelte ungeduldig. »Hier die Nachricht:
Liebe Marcia,
ich hoffe, es geht euch gut. Ich bin in der Burg und wohlauf. Ich
wäre dir dankbar, wenn wir uns so bald wie möglich vor dem Palast
treffen könnten. Es ist etwas geschehen. Ich werde um Mitternacht
am Palasttor sein, jede Nacht, bis du kommst.
Ich freue mich auf ein Wiedersehen und
verbleibe mit besten Grüßen,
dein Silas Heap.
Ende der Nachricht.«
Stanley sank auf sein Kissen zurück und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Auftrag erledigt. Er hatte für die Übermittlung der Botschaft möglicherweise länger gebraucht als irgendeine Botenratte vor ihm, aber er hatte es geschafft. Er gestattete sich ein leichtes Lächeln, obgleich er noch im Dienst war.
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann ging Marcia in die Luft. »Das ist doch wieder typisch! Er unternimmt nicht einmal den Versuch, vor dem großen Tauen zurückzukommen, und dann bequemt er sich endlich, eine Nachricht zu schicken, erwähnt aber meinen Talisman mit keinem Wort. Ich geb’s auf. Ich hätte selbst gehen sollen.«
»Und was ist mit Simon?«, fragte Jenna ängstlich. »Hat Dad ihn gefunden? Und warum hat er uns keine Nachricht geschickt?«
»Klingt jedenfalls nicht nach Dad«, grunzte Nicko.
»Nein«, pflichtete Marcia ihm bei. »Die Botschaft war viel zu höflich.«
»Nun ja, sie war ja auch von einem Bevollmächtigten«, sagte Tante Zelda unsicher.
»Was heißt denn das, von einem Bevollmächtigten?«, fragte Nicko wieder.
»Jemand anders hat die Botschaft für ihn in der Rattenzentrale aufgegeben. Wahrscheinlich konnte er selbst nicht hingehen. Das war ja zu erwarten. Ich frage mich nur, wer der Bevollmächtigte war.«
Stanley schwieg, obwohl er genau wusste, dass der Oberste Wächter der »Bevollmächtigte« war. Auch wenn er keine Vertrauensratte mehr war, so war er doch an die Vorschriften der Rattenzentrale gebunden. Und danach waren alle Gespräche in der Zentrale streng vertraulich. Trotzdem regte sich sein Gewissen. Diese Zaubererleute hatten ihn befreit und gepflegt, ihm wahrscheinlich sogar das Leben gerettet. Er rutschte nervös hin und her und blickte zu Boden. Hier war etwas im Busch, und er wollte nichts damit zu tun haben. Der ganze Auftrag war von Anfang an ein einziger Albtraum gewesen.
Marcia ging hinüber zum Schreibtisch und knallte ihr Buch zu.
»Woher nimmt Silas die Frechheit, etwas so Wichtiges wie meinen Talisman zu vergessen?«, polterte sie. »Weiß er denn nicht, dass es die oberste Pflicht eines Gewöhnlichen Zauberers ist, der Außergewöhnlichen Zauberin zu dienen? Ich werde mir seinen Ungehorsam nicht länger gefallen lassen. Ich habe die Absicht, ihn zu suchen und ihm gründlich die Meinung zu sagen.«
»Halten Sie das für klug?«, fragte Tante Zelda ganz ruhig.
»Noch bin ich die Außergewöhnliche Zauberin«, erklärte Marcia. »Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen.«
»Ich schlage vor, Sie schlafen eine Nacht darüber«, sagte Tante Zelda beschwichtigend. »Morgen früh sieht alles schon ganz anders aus.«
Spät in der Nacht lag Junge 412 im flackernden Schein des Kaminfeuers und lauschte Nickos Schniefen und Jennas gleichmäßigen Atemzügen. Aufgewacht war er durch Maxies lautes Schnarchen, das durch die Decke dröhnte. Eigentlich sollte Maxie unten schlafen, doch wenn er glaubte, damit durchzukommen, schlich er sich immer noch gelegentlich nach oben und legte sich auf Silas’ Bett. Und Junge 412 war daran nicht ganz unschuldig. Jedes Mal, wenn Maxie unten schlief und zu schnarchen anfing, gab er ihm einen Stoß und brachte ihn erst auf die Idee. Heute Nacht freilich hörte Junge 412 neben dem krankhaften Schnarchen des Wolfshundes noch etwas anderes.
Knarrende Fußbodendielen über ihm ... heimliche Schritte auf der Treppe ... das Quietschen der zweitletzten Stufe ... Was war das? Wer war das? Alle Gespenstergeschichten, die er jemals gehört hatte, kamen ihm in den Sinn, als er das leise Schleifen eines Umhangs auf den Steinfliesen hörte. Wer oder was da auch gehen mochte, er war im selben Raum mit ihm.
Er setzte sich langsam auf und starrte ins Dunkel. Sein Herz raste. Eine Gestalt schlich zu dem Buch, das Marcia auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Die Gestalt nahm das Buch und steckte es in ihren Umhang, dann sah sie das Weiße in den Augen von Junge 412, der sie aus dem Dunkel beobachtete.
»Ich bin’s«, flüsterte Marcia und winkte ihn zu sich. Er schlüpfte lautlos unter der Decke hervor und tappte über die Fliesen zu ihr.
»Wie man mit diesem Tier in einem Zimmer schlafen soll, ist mir ein Rätsel«, zischte Marcia ärgerlich. Junge 412 grinste verlegen. Er behielt lieber für sich, dass er Maxie mehr oder weniger die Treppe hinaufgescheucht hatte.
»Ich gehe heute Nacht noch zurück«, sagte Marcia. »Ich will die Minuten um Mitternacht nutzen, um mir Gewissheit zu verschaffen. Du solltest dir merken, dass die Minuten vor und nach Mitternacht die beste Zeit sind, um sicher zu reisen. Besonders wenn draußen jemand ist, der dir Böses will. Und davon gehe ich aus. Ich werde mich zum Palasttor begeben und diesem Silas Heap den Kopf waschen. Wie spät haben wir’s?«
Sie zückte ihre Taschenuhr.
»Zwei Minuten vor Mitternacht. Ich bin bald wieder zurück. Vielleicht könntest du Zelda Bescheid sagen.« Marcia sah Junge 412 an, und da fiel ihr ein, dass ihm kein Wort mehr über die Lippen gekommen war, seit er ihnen im Zaubererturm seinen Rang und seine Nummer genannt hatte. »Was soll’s, so wichtig ist es auch wieder nicht. Sie kann sich ja denken, wo ich bin.«
Da fiel Junge 412 etwas Wichtiges ein. Er kramte in der Tasche seines Pullovers und zog den Charm hervor, den Marcia ihm gegeben hatte, als sie ihn fragte, ob er ihr Lehrling werden wolle. Er betrachtete das kleine silberne Schwingenpaar in seiner Hand mit leichtem Bedauern. Es schimmerte silbern und golden in dem magischen Licht, das Marcia bereits umgab. Er hielt ihr die Schwingen hin – er durfte sie nicht behalten, denn er konnte unmöglich ihr Lehrling werden –, doch sie schüttelte den Kopf und kniete neben ihm nieder.
»Nein«, flüsterte sie. »Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass du deine Meinung änderst und doch noch mein Lehrling wirst. Denk darüber nach, solange ich fort bin. Jetzt ist es nur noch eine Minute bis Mitternacht... Tritt zurück.«
Die Luft um Marcia wurde kalt, und die Schwingungen eines mächtigen Zaubers hüllten sie ein und luden die Luft elektrisch auf. Erschrocken, aber auch fasziniert wich Junge 412 zurück zum Kamin. Marcia schloss die Augen und murmelte einen langen und komplizierten Spruch in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte, und vor seinen Augen erschien derselbe magische Schleier, den er schon auf der Muriel im Deppen Ditch gesehen hatte. Marcia warf den Umhang über sich, sodass er sie von Kopf bis Fuß bedeckte, und das Lila des magischen Schleiers vermischte sich mit dem Lila des Umhangs. Dann ertönte ein lautes Zischen wie von Wasser, das auf heißes Metall spritzt, und Marcia verschwand, einen schwachen Schatten hinterlassend, der sich nach ein paar Sekunden vollends auflöste.
Zwanzig Minuten nach Mitternacht wachte am Palasttor ein Zug Gardisten, wie in jeder der letzten fünfzig bitterkalten Nächte. Die Männer froren und stellten sich auf eine weitere langweilige Nacht ein, in der sie nichts weiter zu tun haben würden, als von einem Fuß auf den anderen zu treten. Und das nur, weil der Oberste Wächter sich einbildete, dass die ehemalige Außergewöhnliche Zauberin ausgerechnet hier auftauchen würde. Einfach so. Natürlich war sie noch nicht aufgetaucht und würde wohl auch nicht mehr auftauchen. Trotzdem schickte er sie jede Nacht hinaus, und sie mussten sich in der Kälte die Beine in den Bauch stehen.
Deshalb trauten die Gardisten ihren Augen nicht, als in ihrer Mitte plötzlich ein schwacher lila Schatten erschien.
»Das ist sie«, flüsterte einer, der vor den magischen Kräften Angst bekam, die plötzlich in der Luft wirbelten und schmerzhafte Stromstöße durch ihre schwarzen Metallhelme schickten. Die Gardisten zogen ihre Schwerter und beobachteten, wie sich der verschwommene Schatten zu einer hohen Gestalt verdichtete, die in den lila Umhang der Außergewöhnlichen Zauberin gehüllt war.
Marcia Overstrand war in die Falle getappt, die ihr der Oberste Wächter gestellt hatte. Sie wurde überrumpelt. Ohne ihren Talisman und den Schutz der Minuten um Mitternacht – sie kam zwanzig Minuten zu spät – konnte sie den Hauptmann der Garde nicht daran hindern, ihr das Echnaton-Amulett vom Hals zu reißen.
Zehn Minuten später lag sie auf dem Boden von Verlies Nummer eins, einem tiefen finsteren Schacht in den Kellergewölben der Burg. Sie war in einem Strudel von Schatten gefangen, den DomDaniel mit größtem Vergnügen eigens für sie herbeigezaubert hatte. Es wurde die schlimmste Nacht ihres Lebens. Sie lag hilflos in einer stinkenden Wasserlache, unter sich die Gebeine früherer Häftlinge, und musste das Gejammer und Geschrei der Schatten ertragen, die um sie herumwirbelten und alle magischen Kräfte aus ihr heraussogen. Erst am nächsten Morgen, als ein alter Geist, der sich verlaufen hatte, zufällig am Verlies Nummer eins vorbeikam, erfuhr jemand außer DomDaniel und dem Obersten Wächter, wo sie war.
Der alte Geist holte Alther, doch der konnte nichts weiter tun, als bei ihr sitzen und ihr Mut zusprechen, damit sie am Leben blieb. Er musste seine ganze Überredungskunst aufbieten, denn Marcia war verzweifelt. In ihrem Zorn gegen Silas hatte sie sich zu einem unbedachten Schritt hinreißen lassen und alles verloren, wofür Alther gekämpft hatte, als er DomDaniel absetzte. Jetzt trug DomDaniel wieder das Echnaton-Amulett um seinen fetten Hals. Er, und nicht sie, war jetzt der Außergewöhnliche Zauberer.